Warum die Aufdeckung von Falschinformationen einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung einer Demokratie leistet

Interview mit Daniel Weimert, codetekt.org

Kennengelernt habe ich Daniel Weimert beim #GIWebTalk der Gesellschaft für Informatik am 20.07.2020, bei dem er als Speaker zur Veranstaltung „Desinformation in sozialen Netzwerken“ eingeladen war. Zum damaligen Zeitpunkt hieß das Projekt, das er vor allem vertrat, noch „Detektiv Kollektiv“. Seit dem 19.04.2021 tritt die gemeinnützige Organisation nun unter dem neuen Namen und mit dem neuen Branding codetekt auf.

Daniel, wie ist codetekt entstanden und wie kam es zu dem Namen?

Das Team rund um codetekt fand sich erstmals im Hackathon #wirvsvirus im März 2020 zusammen. Wir waren zehn Menschen, die sich vorher noch nie im Leben getroffen hatten. Das ganze Wochenende lang haben wir geskyped oder per Slack miteinander kommuniziert, auch per Internetcall (wir hatten übrigens nie unsere Kameras an). Es war ein echter Hackathon, wir konnten gar nicht aufhören und haben ständig debattiert und Ideen niedergeschrieben, wie wir unser gemeinsames Anliegen realisieren möchten. Noch während der Gespräche haben wir die Dinge aufgezeichnet und strukturiert. Tatsächlich hatten wir dann innerhalb von zwei Tagen ein Konzept entwickelt, wie so eine Plattform zur Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit von digitalen Informationen aussehen könnte. Wo sich Freiwillige zusammenfinden, einander koordinieren, Fälle lösen und somit die Glaubwürdigkeit von Inhalten für andere überprüfen. Für andere, die evtl. nicht die dafür notwendige Medienkompetenz oder die Zeit haben oder denen möglicherweise das Vertrauen fehlt zu Journalist:innen anderer Faktchecking-Organisationen.

Das war ein sehr interessanter Prozess, einander auf diese Weise kennenzulernen. Bis heute haben sich die meisten von uns sich noch nie im „richtigen Leben“ getroffen. In den 90er Jahren haben die Ideen in der Garage angefangen, heutzutage geschieht dies in Zoom-Calls von Berlin bis nach Benin, wo auch eine unserer Kolleginnen wohnt. Ja, so ist diese Idee entstanden. Damals haben wir uns den Namen Detektiv Kollektiv gegeben, denn es geht einerseits um das Kollektiv, die Bewegung. Andererseits gibt es eben das Element, dass man selbst aktiv wird und sich in die Rolle einer Detektiv:in versetzt.

Im letzten Jahr ist das Projekt stark gewachsen und wir möchten auch weitere Zielgruppen ansprechen. Daher hat unser Team das Social Start-up umbenannt in „codetekt“: Wir decken in der Community auf, das Detektivthema wurde beibehalten. Nach wie vor ist man auf der Plattform Detektiv oder Detektivin und kann sich verschiedene Level erarbeiten von Lupenhalter:in bis Kundschafter:in und Superintendant:in etc.

 

Screenshot der Homepage von codetekt.org
Screenshot der Homepage von codetekt.org

Warum ist es so wichtig, Falschnachrichten aufzudecken?

Unsere Gesellschaft bzw. wir als Menschheit haben momentan zwei große Herausforderungen: Die eine ist der Klimawandel, die große Herausforderung für unseren Planeten. Die andere Herausforderung ist die Digitalisierung und all ihre negativen Aspekte, die wir noch nicht ausbalanciert haben. Und das wiederum ist eine Herausforderung für unsere Demokratien. Die Demokratien haben noch keine wirkliche Vision, wie das Internet in 20 Jahren für sie aussehen soll. Autoritäre Regime haben dies für sich längst geklärt. Sie wissen sehr genau, wie sie das Internet nutzen wollen, um ihre Bevölkerung zu kontrollieren.

Zu dieser Herausforderung der Digitalisierung gehört, dass alle Menschen etwas posten und veröffentlichen können. Daher muss es zur Kompetenz einer jeden/ eines jeden gehören, sich durch diese Informationsflut hindurch zu navigieren. Wenn unsere Demokratie in 20 Jahren noch bestehen soll, müssen wir in der Lage sein, eine gut informierte Wahlentscheidung zu treffen und uns generell gut zu informieren über unsere Gesellschaft. Wir werden ja durch etwas zusammengehalten, das nicht real existiert, wir sind verbunden durch digitale Kanäle, durch Kommunikation online. Wenn Menschen anfangen, sich in Nischen zu bewegen und sich vielleicht sogar zu radikalisieren, dann kann das unserer Demokratie nur schaden. Deswegen gehört es ganz dringend zur Erhaltung von Demokratie dazu, Medienkompetenz zu vermitteln. Konkret müssen Menschen verstehen, dass nicht alle Sachen, die wir lesen oder in Videos sehen, auch wirklich korrekt sind. Informationen sind so einfach zu manipulieren aus den unterschiedlichsten Motivationen, z.B. aus wirtschaftlichen Anreizen, um Clickbaits[i] zu generieren.

Jetzt mit Corona habe ich umso mehr gemerkt, wie viele Artikel und Videos es plötzlich zu diesem Thema gab. Man hatte als einzelner Mensch gar nicht die Zeit, das alles zu verifizieren. Viele glauben aber Fact-Checking-Organisationen auch nicht, weil sie sagen: „Diese Journalist:innen arbeiten ja alle für den Staat, denen können wir nicht trauen!“

Dann fiel mir ein, dass Community-Ansätze doch in einzelnen Bereichen schon sehr gut funktionieren, z.B. Wikipedia. Warum sollte es also nicht eine Community geben, die aus Menschen wie Dir und mir besteht, die immer nach den gleichen Standards, ganz objektiv an Informationen und deren Bewertung herangehen und sie überprüft. Dabei geht es nicht um die Überprüfung von Fakten, das wäre ja nur durch Spezialist:innen möglich.

Sondern es geht um die Überprüfung der Glaubwürdigkeit, der Rahmenbedingungen von Informationen. Denn das kann jeder und jede:

  • Man kann prüfen, wer der Autor/die Autorin des Artikels ist?
  • Stimmt die Überschrift mit dem Text überein?
  • Werden unterschiedliche Meinungen dargestellt oder nur eine einzige Position?
  • Werden Zitate verwendet und wenn ja, sind sie aus dem Kontext gerissen? Etc.

Und das sind nur ein paar dieser Kriterien, die wir abfragen. Durch die Anwendung dieser immer gleichen Kriterien können Menschen wirklich befähigt werden im Kollektiv, in der Community, schnell für andere Inhalte zu verifizieren, dabei die eigene Medienkompetenz zu schulen und einen Eigenanteil für die Demokratie zu leisten.

Ich glaube, momentan wollen sich sehr viele Menschen für die Demokratie engagieren. Aber nicht alle haben die Zeit, sich einer Partei anzuschließen oder das Geld, an eine Organisation zu spenden oder wollen während Coronazeiten zum Demonstrieren auf die Straße gehen.

Aber sich für Medienkompetenz einzusetzen, für eine gut informierte Gesellschaft und Wahlentscheidung, digital und auf solch einer Plattform, das ist eine kleinere Hürde. Daher glaube ich, dass dies eine gute Möglichkeit ist, sich für eine resiliente und gut informierte Gesellschaft einzusetzen.

Ist es überhaupt möglich, Falschnachrichten wirklich aufzudecken? Kann man denn niemandem mehr trauen? War „früher alles besser“?

Das Phänomen von Falschnachrichten selbst ist natürlich nicht neu, das gab es selbstverständlich auch früher. Ich erinnere an die Zeit des Kalten Krieges oder auch die AIDS-Pandemie, während derer sich unterschiedliche Parteien gegenseitig die Schuld für irgendetwas in die Schuhe geschoben haben, das Virus in die Welt gesetzt zu haben. Aber wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir aufgrund der sozialen Medien, aber vor allem der Digitalisierung und der “traditionellen Medien”, die online sind,  sehr viel schneller kommunizieren können und vor allem – das ist vielleicht sogar noch wichtiger – Menschen sehr viel schneller erreichen können. Daher hat dieses Phänomen ein ganz neues Ausmaß gewonnen.

Ich glaube auch nicht, dass es immer möglich ist Falschinformationen zu identifizieren und dass es oft auch gar nicht darum geht, ob eine Information falsch oder richtig ist. Oft geht es darum, ob Informationen verwendet werden, um bewusst in die Irre zu führen. Denn wir dürfen in einer Demokratie lügen. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass manche Artikel mit ihrer Rhetorik Schaden anrichten können und vielleicht bewusst Menschen in die Irre führen.  Das kann auch mit Informationen geschehen, die sachlich korrekt, aber vielleicht lückenhaft sind. Wir müssen uns von dieser Zwangsdychotomie „Falsch” und „Richtig” verabschieden und realisieren, dass es eigentlich um andere Sachen geht: um Täuschung, um Schaden, der bewusst angerichtet werden kann.

Daher kommt auch unser Ansatz. Informationen und Fakten verändern sich z.T. sehr schnell. Ich erinnere an die Diskussion um die Wirksamkeit von Masken während der Pandemie. Am Anfang wurde deren Wirksamkeit stark infrage gestellt und sogar bestritten. Inzwischen beruht ein Großteil der Pandemiestrategie auf der Verwendung von Masken. Ich will damit sagen: Fakten ändern sich sehr schnell, es macht daher mehr Sinn die Rahmenbedingungen zu überprüfen, unter denen sie entstanden sind und verbreitet werden. Außerdem ist es meiner Ansicht nach auch nicht der richtige Weg, Menschen zu sagen was richtig oder falsch ist. Diese Beurteilungen können wir anderen auch nicht abnehmen, das muss jedeR für sich entscheiden. Aber was man sagen kann ist, dass man immer wieder mit denselben Kriterien an einen Artikel herangehen kann, unabhängig davon, ob dieser Artikel in „etablierten Zeitung“ oder in einem offensichtlichen Propagandamagazin erscheint. Auch in einem Propagandamagazin können 10 von 100 völlig korrekt sein. Daher muss man immer wieder bei jedem Artikel nachfragen, ob die objektiven journalistischen Qualitäten gegeben sind. Und das können wir eigentlich alle tun.

Screenshot Mitgliederbereich von codetekt.org
Screenshot Mitgliederbereich von codetekt.org

Siehst Du einen Zusammenhang zwischen Falschnachrichten und dem Thema Cyber-Security? Wenn ja, welchen?

Aus meiner Sicht müssen diese Themen aus unterschiedlicher Sicht betrachtet werden, aber zu Cyber-Security bin ich nicht der Experte. Bei Cyber-Security geht es ja doch vor allem um eine technische Resilienz. Bei Falschinformationen (oder auch Des-,Miss- oder Malinformation) geht es vielmehr um die soziale und psychologische Resilienz. Wobei diese beiden Elemente natürlich eng miteinander verzahnt sind: So haben wir ja zum Beispiel bei dem Hack des Bundestages 2015 gesehen, dass die Emails von Abgeordneten gehackt wurden, um Informationen abzugreifen. Und bei solchen Phishingattacken oder Doxingmechanismen geht es ja auch darum, das erhaltene, möglicherweise kompromittierende Material gezielt zu einem späteren Zeitpunkt strategisch wieder in Umlauf zu bringen. Das Phänomen kann man ebenfalls als Malinformation bezeichnen. Also wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Informationen in Umlauf gebracht werden, die korrekt sind, aber die sehr strategisch zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt gestreut werden, um einer Person zu schaden. Das kann natürlich auch gemischt werden mit Desinformation oder mit Falschinformation. Insofern sind Falschnachrichten und Cyberkriminalität zwei Mechanismen oder Werkzeuge, die genutzt werden können, um sozusagen denselben Tisch zu bauen.

Wenn ein Schaden durch Falschnachrichten entsteht, wie muss ich mir das vorstellen? Welche Art von Schaden entsteht?

Einerseits entsteht natürlich wie gesagt eine zersetzende Kraft, um bewusst gesellschaftlichen Schaden anzurichten, beispielsweise eine Demokratie auszuhöhlen oder in einem Konflikt eine bestimmte Position zu beziehen. Das ist sicher der schwerste Schaden, ein echter Langzeitschaden, durch den das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Institutionen reduziert wird.

Aber es gibt auch direkten Schaden, der angerichtet werden kann. Menschen kamen zum Beispiel während der aktuellen Pandemie zu Schaden, indem sie versucht haben, sich mit Bleichmittel oder Alkohol selbst zu behandeln, weil sie der Information Glauben geschenkt haben, diese Methoden seien gut zur Behandlung des Virus. In anderen Fällen wurden Menschen in Panik versetzt und sind zu Schaden gekommen, z.B. weil sie glaubten, dass in einem Einkaufszentrum ein Feuer ausgebrochen sei. Dazu kamen in diesen Fällen dann auch noch Opportunitätskosten, weil in der Folge Läden in diesem Einkaufszentrum mehrere Tage lang geschlossen bleiben mussten.

Natürlich richten nicht alle Falschmeldungen richten den gleichen Schaden an.

Was ist Deine Vision, welchen Beitrag wird codetekt in zehn Jahren zum Thema gezielter Manipulation von privaten oder öffentlichen Informationen erreicht haben?

Meine Utopie oder mein Wunsch wäre, dass in zehn Jahren, wenn Menschen nicht wissen, ob ein Gerücht valide ist oder nicht, sie auf codetekt.org gehen, im Archiv nach diesem Thema suchen können und sehen, was eine engagierte Community weltweit dazu gesagt hat, kommentiert hat und welchen Vertrauensindex diese Information hat. Die Einordnung oder Beurteilung der Meldung erfolgt dann von Tausenden, ohne Bevormundung, ohne einen Staat, der mir sagt, was richtig oder falsch ist. Ohne eineN Journalist:in, die mir sagt, was richtig oder falsch ist, sondern durch andere Menschen, die immer wieder dieselben Kriterien anwenden.

Mein anderer Wunsch ist, dass jedeR durch codetekt und das Kollektiv sensibilisiert und motiviert wird, immer wieder den eigenen Bias zu hinterfragen. So dass, wenn Information gelesen wird, immer wieder reflexartig die Kriterien zur Medienkompetenz abgespult werden. Wer ist der Autor? Stimmt die Headline mit dem Text überein? Stammt das Bild überhaupt von diesem gezeigten Ereignis oder wurde es bereits anderweitig verwendet? Werden Zitate verwendet? Sehe ich grobe Rechtschreibfehler und ist der Artikel wahrscheinlich in einer anderen Sprache verfasst worden und nur schnell über einen Online-Translator übersetzt? Sind Quellen genannt? Und wenn ja, stimmt die Information der Quelle mit der des fraglichen Artikels überein?

Also in unsere aktuelle Zeit übersetzt: Ich kann vielleicht nicht sagen, welche Chemikalien gegen Covid 19 wirken, denn ich bin kein Arzt. Aber ich kann überprüfen, ob die Quelle der Information, die ich dazu erhalten habe, vertrauenswürdig ist.

Vielen Dank Daniel, für dieses spannende Gespräch!

Schnappschüsse des Gespräches mit Daniel Weimert codetekt.org
Schnappschüsse des Gespräches mit Daniel Weimert codetekt.org

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[i] Clickbaits sind „Internetköder“, die beispielsweise mit reißerischen Überschriften anreizen, einen Artikel oder ein Video anzuklicken und somit die Anzahl der Zugriffszahlen damit Werbeeinnahmen zu erhöhen.

 

Vorschaubild: Bildnachweis:seb_ra

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